ernst

Von meiner ersten Jugend an waren Gesichter und ihre Deutung
eine meiner Lieblings-Beschäftigungen.

Georg Christoph Lichtenberg

Die E-U- Battle: Ernste Musik vs. Unterhaltungsmusik

Jeder möchte anders sein, aber irgendwie doch anders anders als die anderen. Christian und Günther nennen sich Anders, obwohl sie Antonio Augusto Schinzel-Tenicolo und Günther Stern heißen. Ob sie halten, was ihr Pseudonym verspricht, kann bezweifelt werden. Sicher jedoch ist Christian Anders anders als Günter Anders. Christian Anders ist ein Schlagersänger, der 1972 ein breites Publikum mit seinem größten Hit unterhält: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo. Heute ist er in diesem Nirgendwo angekommen und entlarvt mit seiner esoterischen Wissenschaft unsere falsche Welt des Impfens, der Viren, der Evolution und der Religion als Lüge. Günther Anders ist Apokalyptiker der technisierten Medienwelt und entlarvt die Kultur der Unterhaltung. Unterhaltender Pop sei so erfolgreich, „weil Unterhaltung Terror ist“, der uns durch den „Unernst ihres Auftretens“ wehrlos macht, „total entwaffnet“ (Anders). Der Titel seines Buches aus dem Jahr 1972 lautet: Endzeit und Zeitenende.

So anders sind Anders (Christian) und Anders (Günther) gar nicht in ihrer sehr ernsten Pose

Anfang der 70er tobt der Kulturkampf zwischen E und U, zwischen dem Ernst der Klassik und der Unterhaltung des Pop. Schillers Diktum „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ erfährt eine böse, politische Wendung. Es gilt nun als Motto einer repressiven Kulturindustrie, die durch „Schmalz“ und „Gedudel“ (Adorno) machtlegitimierende Ideologie betreibt. Theodor W. Adornos zwei Jahre zuvor erschienene Ästhetische Theorie liefert den Verächtern des Pop gebildete Argumente. Für Adorno ist vor allem „leichte Musik“ ein leichter Gegner. Pop-Musik sei Teil der Kulturindustrie, Agent einer affirmativen Ideologie. „Die U-Kunst verfälscht“ die Aura eines Kunstwerks, ihre Kritik an Tiefe und Ernst ist reine Ideologie und sediert uns in einem Verblendungszusammenhang. Adorno und Anders (Günther) sehen die Welt anders als Anders (Christian): Pop-Musik ist „Tendenzkunst der Macht“ (Anders). Unterhaltung, als „niedrige Kunst“ ist somit „Ausdruck der Allgegenwart von Repression“ (Adorno). Daraus folgt eine frühe Form der Cancel Culture: „Heute ist alles, was als leichte Kunst firmiert, zu verwerfen.“ Bis heute vergütet die GEMA E-Musik höher als U-Musik.

Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre stellen in ihren Gesprächen 2021 fest: Alle sind so ernst geworden. Das aktuelle Phänomen der neuen Ernsthaftigkeit findet sein Vorbild im Ernst der frühen 70er.

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Theo A. warnt: Obacht vor der verblendenden Ideologie der Kulturindustrie: Bloß kein leichtes und heiteres Gedudel. Kunst ist etwas sehr sehr Ernstes!

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Wenn das Leben schon ernst ist, ist Kunst das Allerernstete. Die Kritische Theorie der Ästhetik auf eine Formel in leichter Sprache gebracht lautet: Ernst ist gut, heiter ist böse. Unterhaltende Kunst als Ware in einer kapitalistischen Kulturindustrie neutralisiert den Geist einer ehemals kritischen Kunst. Sie ist vulgär, weil sie zur „Identifikation der Menschen mit der eigenen Erniedrigung“ führt. Die Produkte des Pop-Konsums haben ein Gesicht und „ihre Mine ist das Grinsen“ (Adorno).

Diese Botschaft ist spätestens 1972 in der Kulturindustrie angekommen. Wenn das Grinsen repressive Unterhaltung signalisiert, dann spiegelt sich in einem ernsten Gesicht der Anspruch auf E-Kunst – so einfach kann man geistvolle Philosophie in die Praxis übersetzen, ihre vernichtende Kritik dialektisch neutralisieren. So ist zu beobachten, dass die Gesichter auf den Plattencovern des Jahres 1972 eine tiefe Ernsthaftigkeit ausstrahlen, denn Ernst ist „das Pathos der Objektivität“ (Adorno).

Der potentielle Käufer einer LP bekommt mit einer einfachen Faustformel eine Anweisung für die physiognomische Lesart der Cover-Gesichter, um auf die zu erwartende Musik zu schließen:
Lachen = billiger, schlichter Pop aus einer illusionären, eskapistischen Schlagerwelt.
Ernsthaftigkeit = anspruchsvolle Kunst mit tiefer, authentischer Botschaft.

Diese Regel gilt offenbar für das ganze Pop-Spektrum. Nicht nur notorisch ernster Prog-Rock, auch Chart-Pop und sogar Schlagerstars nobilitieren ihren Sound mit einer ernsthaften Miene.

 Haben MONICA MORELL, die RASPBERRIES oder SHOCKING BLUE zwischen ihren beiden Platten aus dem Jahr 1972 Adorno gelesen? Immerhin wechseln sie innerhalb eines Jahres ihr Image und schalten von gezwungenem Cheese-Lachen um auf düsteren Ernst. Der unterhaltende Pop weiß, wie er künstlichen Anspruch demonstriert.

Die Schlager der MONICA MORELL changieren im Single- oder LP-Format zwischen heiterer Affirmation und ernsthaftem Anspruch.

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Sie haben es wohl selbst gemerkt: Peinliche Posen im tiefergelegten Dauergrinsen reichen nichtmals für den schnellen Konsum. Aber ob man dann noch der grimmigen Schwärze Glauben schenken mag? Das falsche Lachen verfälscht auch die aufgesetzte Ernsthaftigkeit.

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Der böse Blick in gefährlichem Lack und Leder ersetzt den bunten, aber harm-losen Frohsinn: Nur der tiefe Ernst kann shocking.

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Vorder- und Rückseite des Covers demonstrieren den Antagonismus von Ernst und Spaß. Das fröhliche Lachen ist nur die Rück-seite der authentischen Ernsthaftigkeit, und beide Seiten sind bedeckt von einem dunklen Schatten.

Doch – bei allem Respekt – machen es sich unsere Meisterdenker nicht etwas zu einfach? So schön der alte Dualismus von kritischer und affirmativer Kunst (Marcuse) auch funktioniert, die Pop-Kultur wirkt dann doch differenzierter. Ein Blick auf die Cover des Jahres 1972 lässt ein breites Spektrum zwischen Ernst und Unernst erkennen. Zwischen den Enden der Parabel entfalten sich Stufen der Ernsthaftigkeit. Ein existenzielles Pathos wird umrahmt von grimmiger Wut, trauerndem Leid auf der einen Seite, freundlicher Distanz, fröhlichem Leichtsinn bis zur aufgesetzten, künstlichen Pose auf der anderen Seite.

Stufen der Ernsthaftigkeit

Grimmige Wut

Das Elend der Welt macht wütend. Es ist alles so extrem ernst, dass man nur noch schreien kann oder sich wehren muss: Am wichtigsten ist der böse Blick.

 

Trauerndes Leid

Es ist zum Heulen ernst. In der Nachfolge des leidenden Christus‘ stehen der Pop kurz vor der Kreuzigung. Das Leid kann aber auch Pleasure sein.

 

Existentielles Pathos

Hier kommt die Ernsthaftigkeit zu sich selbst. Die Bilder zeigen Köpfe, die sich Gedanken machen und nicht nur ihren Spaß im Blick haben – und das seit der frühesten Kindheit. Die Gesichter bedeuten: Diese Musik ist sensibel und authentisch, the real deal. Gesichter, die das ganze Quadrat füllen, schaffen eine große persönliche Nähe. Sie laden ein mitzufühlen. Gerne präsentiert man sich im existentialistischen Schwarz-Weiß. Tief und schwer drückt die Last der Existenz. Anspruchsvolle Songs bringen wahre Gefühle zum Ausdruck und lassen die Hörer (und Plattenkäufer) an der künstlerischen Botschaft partizipieren. Selbst ein Spaßmacher der Nation meint es sehr sehr ernst mit seinen Schlagern.

 

Freundliche Distanz

Die Lage bleibt ernst, aber man kann der Welt mit souveräner Distanz begegnen. Die Ambivalenz eines leichten Mona-Lisa-Lächelns changiert zwischen Großmut und Ironie. Hier hat die Kunst das richtige Maß zwischen dem Ernsten und Heiteren gefunden.

Fröhliche Sorglosigkeit

So ernst ist es nun auch wieder nicht. Spaß zu haben bedeutet nicht unbedingt, ein naiver Ignorant zu sein. Nur der leichte Sinn macht das Leben lebenswert. Ernst wird versauern, Lachen ist gesund. Das wissen 1972 nur ganz wenige und widersprechen dem Zeitgeist einer Ernsthaftigkeits-Pose.

Peinliche Posen

Es gibt auch eine dunkle Seite der lesbaren Mienen. Nicht immer gelingt es, dass ein ernsthafter Blick die Erwartung auf anspruchsvolle E-Musik weckt. Kann es sein, dass uns diese Kandidaten nur eine Ernsthaftigkeit als-ob präsentieren? Ist womöglich der Ernst nur gespielt, das Lachen ein unechtes? Besonders peinlich wird es, wenn ein von sich selbst überzeugter Verführerblick so schnell durchschaubar ist: Vorsicht Teenies, hier will jemand nur euren Körper euer Geld.