warlock

WARLOCK

Es ist eine der merkwürdigsten Langspielplatten des Jahres 1972. WARLOCK verweigert eine Einordnung in Kontexte, signalisiert Singularität, konstruiert ein Mysterium. Die folgenden Anmerkungen behaupten nicht, das Rätsel zu lösen, nennen lediglich Indizien und spekulieren Zusammenhänge.

Am 25. März 1972 erscheint in der Zeitung „Detroit Free Press“ auf der Seite 16 ein Artikel über Kontroversen in der „Church of Satan“, Satan Rift Centers in Detroit. Der 1966 von Anton LaVey in San Francisco gegründete Satanisten-Club hatte 1970 in Detroit die erste und dann auch größte Außenstelle gegründet. Die sog. „Grotte Babylon“ leitet Wayne West, der 1972 aber eine Rebellion wagt – es ging wohl weniger um dogmatische Fragen zum Satan, sondern eher um Geld, misue of fee, wie es im Artikel heißt. LaVey exkommuniziert den satanischen Häretiker, der daraufhin seine eigene Kirche etabliert, die „Universal Church of Man“. Satanisten waren in Detroit der frühen 70er ein wohlbekanntes Phänomen.

LaVey ernennt Baphomet zu seinem symbolischen Haustier. Eine stilisierte Darstellung schmückt eine von ihm produzierte LP 1968, die 49 Minuten lang Satanismus predigt, unterlegt mit sphärischem Orgelsound. Die Satanisten kennen Baphomet von dem okkulten französischen Schriftsteller Éliphas Lévi, der 1854 diese Figur ins Zentrum seines Buches Dogme et rituel de la haute magie stellt, das in einer englischen Übersetzung 1896 erscheint. Diese angeblich auf die Tempelritter zurückgehende Gestalt changiert in ihrer konstruierten Symbolik. Mal stellt sie die Vereinigung gegenstrebiger Kräfte dar, männlich/weiblich, menschlich/tierisch, etc., mal soll man in dem gefallenen Engel einfach das Böse sehen. Baphomet ist eine hybride Chimäre.

Diese zwei Hinweise können als Indizien gedeutet werden, dass Baphomet als Satanisten-Maskottchen in der popkulturellen Szene in Detroit kein Unbekannter ist, auch nicht für die Musiker des WARLOCK-Projekts. Jedenfalls kolorieren sie mit ihrem Wasserfarbkasten Lévis Zeichnung und platzieren den schrillbunten Baphomet auf das Cover ihrer LP – natürlich ohne jeglichen Hinweis auf seine Herkunft.

Immerhin passt der Titel WARLOCK zum Bild. Das auf das Altenglische zurückgehende Wort kann sowohl ‚Zauberer‘ als auch ‚Dämon, Teufel‘ bedeuten. Ein Warlock ist ein Schamane, der das Böse besiegt, indem er selbst dazu wird, eine quasi janusköpfige Gestalt. WARLOCK gibt sich 1972 als eine Art dämonischer Schamanismus zu erkennen, der die Grenzen zwischen dieser und der anderen Welt, zwischen Immanenz und Transzendenz erkundet. Baphomet erscheint dafür als eine passende Illustration.

Was erwarten die Ohren, wenn die Augen einen baphometischen Hexenmeister auf dem Cover sehen? Aus heutiger Sicht ist die Antwort klar: irgendeine dunkle Metal-Variante. Tatsächlich ist Baphomet eines der vielen konventionellen Klischees in der Metal-Szene. Zahlreiche Bands schmücken ihre Cover mit der Figur, um vermutlich zu zeigen, wie böse sie sind. Allerdings setzt dieser Trend erst gegen Ende der 80er ein, fast zwanzig Jahre nach WARLOCK (selbst dieser Name wird von der deutschen Metal-Band um Doro Pesch 10 Jahre später okkupiert).

1972 war dieser heute erwartbare Schritt vom Cover auf den Sound kein Standard. Aber dennoch: Gibt die Verbindung zur Detroiter Satanistenszene nicht einen Hinweis auf irgendetwas Düsteres? Keineswegs: Die Songs der Scheibe bieten dagegen ein breites musikalisches Spektrum zwischen Prog-Rock, Jazz und Soul, entziehen sich jeglicher homogener Klassifizierung. Baphomet ist für WARLOCK somit nicht das Symbol des Bösen, sondern eher das Zeichen für die Vereinigung von Gegensätzen.

Kann man die hier vertretene These einer Analogie zwischen Form und Inhalt, zwischen den Cover und Sound noch auf dieses Album anwenden? Die Hintergründe zum Sound der LP sind ebenso mysteriös wie das Cover – eine erste Gemeinsamkeit.

Detroit Rock hat sich zum Begriff für eine Genre des Pop etabliert. MITCH RYDER, THE STOOGES, BOB SEGER, ALICE COOPER, TED NUGENT und vor allem MC5 sind Bands, die alle aus Detroit stammen. Noch bekannter ist Detroit aber für einen ganz anderen Sound: Motown. Das 1959 gegründete Label prägte in den 60ern die gesamte Pop-Welt und erschuf z.B. mit den SUPREMES; MARVIN GAYE; JACKSON 5, STEVIE WONDER Superstars. Einen großen Anteil am Erfolg des Labels trug das Songwriter- und Produzenten-Trio Brian Holland, Lamont Dozier und Eddie Holland, kurz HDH genannt. 1967 kam es aber zum Streit – es ging wieder mal ums liebe Geld und Fragen der Rechteverwertung. Man verklagte sich gegenseitig um über 20 Millionen Dollar und einigte sich erst nach quälenden gerichtlichen Kämpfen am 3. Januar 1972 auf einen geheimen Verglich. Der Bruch zwischen HDH und Motown war natürlich besiegelt. In der Zwischenzeit hat das Trio eigene Labels gegründet, Invictus und Hot Wax Records, während der gerichtlichen Auseinandersetzung noch unter Pseudonymen. 1972, nach dem Verglich, folgte das dritte Label, Music Merchant. Es hatte nur gut ein Jahr Bestand und produzierte ca. 20 Singles und nur zwei Alben. Alle diese Music Merchant-Produktionen entsprachen dem bekannten Schema des HDH-Soul, dem Motown-Sound, mit einer Ausnahme, dem zweiten Album des Labels: WARLOCK. Den auch als Single herausgegebenen Song der LP, You‘ve Been My Rock, haben HDH im unverkennbaren Motown-Sound geschrieben. Er bleibt, ziemlich fremd und unplatziert, der einzige Soul-Titel auf der Platte. Alle anderen Songs tendierten zum Rock und werden verantwortet von Detroiter Studio-Musiker, vor allem dem Gitarristen Jack Burningtree, der schon mal bei Konzerten von Mitch Ryder aushilft, und Joey Finazzo, dem ehemaligen Sänger der 60er Soul-Band THE SEMINOLES. Alle Beteiligte werden nie mehr sonderlich in der Pop-Welt in Erscheinung treten.

Mysteriös: Die erfolgreichen Macher des Motown-Souls produzieren mit Studio-Musikern unter einem Pseudonym eine Prog-Jazz-Rock-LP auf einem ganz kurzzeitigen Label, das fast nur Soul-Singles herausgibt. Was hat das zu bedeuten?

Die zum Album veröffentlichte Single enthält als B-Seite einen Song, den man nicht auf der LP findet: The Judgement Day. Ist das eine versteckter Hinweis? Man kann nur spekulieren: WARLOCK ist der Doppelagent des Jüngsten Gerichts. Er richtet am Ende der Welt über Gut (HDH) und Böse (Motown) und droht mit seiner dämonischen Präsenz vor ewigen Höllenqualen. So gesehen ist das WARLOCK-Projekt eine Abrechnung von Holland/Dozier/Holland mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber, Ausdruck ihrer Wut und ihres Bedürfnisses nach Gerechtigkeit oder auch nach Rache. HDH wünschen Motown in die Hölle oder wenigstens in die Fänge der Detroiter Satanisten. Dieser Wunsch geht in Erfüllung. Motown verlässt 1972 Detroit und möchte sich in Los Angeles neu erfinden, kann aber an die Erfolge der Zeit in Detroit nicht mehr anknüpfen. Der dämonische Schamane WARLOCK tritt 1972 als Weltenrichter kurz in Erscheinung, verschwindet sofort wieder, um viel später als Fürst der Finsternis prägende Symbolfigur des Heavy Metal wieder aufzuerstehen.

Detroit selbst erlebt bald einen dramatischen Abstieg, wird zum Symbol einer nieder gehenden Automobil- und Industriekultur, Zentrum des Verbrechens. Der Detroit-Rock diffundiert an die West- oder Ostküste und Motown siedelt nach LA. Am 31.12.1972 findet ein letztes Konzert im Zentrum der Detroiter Musik-Szene statt, im „Grande Ballroom“. Es spielt die Hausband MC5, die sich ebenfalls an diesem letzten Tag des Jahres 1972 auflöst. Der Grand Ballroom war eine Institution der Pop-Welt, zahlreiche Größen spielten hier, z.B. LED ZEPPELIN, JANIS JOPLIN, THE WHO, JEFF BECK, ZAPPA, ERIC CLAPTON, JOE COCKER, FLEETWOOD MAC, STEVE MILLER, DEEP PURPLE, VELVET UNDERGROUND; JOHN LEE HOOKER, SUN RA und mehrfach auch GRATEFUL DEAD, die, bevor sie GRAFEFUL DEAD hießen, sich WARLOCKS nannten. Für die größeren Gigs wird Detroit zu klein, der Macher Ross Gibb beendet seine Karriere als Konzertmangager und wird Lehrer. 1972 ist für die Musik-Stadt Detroit eine Wendemarke, der Höhepunkt ist überschritten, jetzt geht es nur noch abwärts. WARLOCK demonstrieren diesen Kippmoment in ihrer mysteriösen Symbolik.

Im Februar 2021 erscheint ein Album von ALICE COOPER, mit dem Vincent Furnier aka Alice Cooper seine Heimatstadt und musikalische Herkunft feiert: Detroit. Für seine Detroit-Stories rekrutiert er eine Reihe alter Recken des Detroit-Rock, vor allem den Gitarristen und Kopf von MC5, Wayne Kramer.

https://www.theguardian.com/us-news/2015/jul/26/satanic-temple-sculpture-detroit-oklahoma

Aber auch Baphomet ist ein Detroiter Wiedergänger. WARLOCKs Wiedergeburt ereignet sich im Jahr 2015. Am 25. Juli 2015 wird in Detroit eine zwei Meter große – im Crowdfunding finanzierte – Bronze-Statue enthüllt, die ein zentrales Symbol der Satanisten darstellt: Baphomet, angebetet von zwei Kindern. Die geplante Platzierung in der Stadt wurde gerichtlich untersagt. Aus Sorge vor christlichen Störaktionen fand das Ereignis dann, lange geheim gehalten, in einem der in Detroit zahlreichen ehemaligen Industriegebäude statt (Tickets sind für 25$ erhältlich). Die Weltpresse berichtet.

So schließen sich Kreise.

WARLOCK ist tatsächlich ein dämonisches Mysterium. Das Cover wird in diesem Falle wörtlich genommen. Es zeigt nicht das Bild zum Sound, sondern verdeckt ihn. Das Cover enthüllt nicht die Wahrheit am Judgement Day, sondern verschleiert eine dunkle Verschwörung. So gelesen, ist die bewusst als Einmaligkeit konstruierte LP eine komplexe Metapher für das janusköpfige Jahr 1972, Ausdruck seiner hybriden Widersprüche.