Mond

Der Mond und seine Rückseite

Der Mond ist das Sinnbild für die paradoxe, ja melancholische Erscheinung aller Dinge. Der allzumenschliche Mond erzählt in einer unendlichen Kulturgeschichte voll und schwer von seiner engen Beziehung zu den Erdbewohnern. Er ist launisch, zyklisch in seinem Kommen und Gehen. Er belästigt mitunter dreist oder entzieht sich müde, kokett, beleidigt. Seine Zeit ist die Nacht. Er beleuchtet die Dunkelheit. In der Welt des Mondes leben die Dämonen und Geister. Geht der Mond auf, erwacht das verdrängte Unbewusste. Der Mond sagt, dass das Ich nicht mehr Herr im eigenen Haus ist.

Everyone is a moon
and has a dark side
which he never shows
to anybody.

Mark Twains Kalenderspruch prägt 1897 die Metapher von der dunklen Seite des Mondes, die 75 Jahre später ihren Einzug ins Kollektivbewusstsein feiert.

1972 kommt die Metapher zu sich selbst. LABELLE erinnern an den Moon Shadow, während PHANTASIA in ihren Fantasien einen regen Austausch mit dem Trabanten pflegen: I Talk to the Moon. THE PRETTY THINGS fühlen sich ganz astronautisch und singen I was over the moon. Aber schon APRIL WINE beschwören die Bad Side of the Moon und in AMERICAs Moon Song geht der Mond auf upon my fallen eyes. Der Moonshine, wie BERT JANSCH seine LP 1972 betitelt, schimmert immer schon ambivalent, selbst in LED ZEPPELINs Ocean: “Singing in the sunshine, laughing in the rain / Hitting on the moonshine, rocking in the grain”.

Recall The Beginning… A Journey from Eden heißt das siebte und nur wenig erfolgreiche Album der STEVE MILLER BAND. Ausdrücklich weist die Band darauf hin, ihre Songs während einer Mondfinsternis aufgenommen zu haben: Die Rockmusik verdunkelt und nähert sich der Rückseite.

Ein ausdrücklicher Hinweis auf der Coverrückseite

So ganz auf der Rückseite des Lebens existiert NICK DRAKE. 1972 kann er seine Depressionen noch in Songs verwandeln, zwei Jahre später beenden sie sein Leben. Im Pink Moon findet er eine passende Metapher für seine leidende Seele.

Mit ihrem düsteren Folk-Rock richten sich DARK in der Dunkelheit ein. Der Song Darkside, der ihre Scheibe Round the Edges eröffnet, formuliert programmatisch nicht nur die Sichtbarkeit der Mondrückseite, sondern arrangiert sich einigermaßen mit den neuen Lebensbedingungen.

Your eyes see the darkside of the moon
Sitting alone, in the afternoon
I want to tell you, my girl
To life your life on the darkside of the moon.

Alles verdunkelt sich, aber man muss das Beste daraus machen.

Eine Gesangsband der 50er Jahre, THE MOONGLOWS, wollen an der neuen Sehnsucht nach dem Mond partizipieren. The Return of the Moonglows heißt der Versuch über 10 Jahre nach ihrer Auflösung. Die Platte ist erfolglos, doch ihr Name offenbart den Moonism-Zeitgeist: 1972 glüht der Mond.

So möchte wohl auch der Sektenführer Sun Myung Moon allein von seinem Namen profitieren. Er gründet 1972, ein Jahr nach seiner Migration aus Korea in die USA, die International Conference on the Unity of the Sciences (ICUS) und gibt seiner Unification Church einen wissenschaftlichen Anstrich, doch seine religiösen Anhänger werden im Volksmund Moonies genannt, ein treffender Name für zahlreiche Zeitgenossen.

Auch die deutsche Band WALLENSTEIN schließt sich der Mond-Sucht an. Im Englischen schließt der Mond eine Verbindung mit dem Wahnsinn. Allerdings zeigt der Song Lunetic doch noch eine gewisse fremdsprachliche Unsicherheit in der Orthografie.

Die Leitmetapher des Jahres: der Mond
Pink Floyd

Verwechselungsgefahr: Dark Side of the Moon

MEDICINE HEAD veröffentlichen zu Anfang des Jahres ihre dritte LP. MEDICINE HEAD schreiben Songs in den Üblichkeiten des Pop über Liebe und Alltägliches, spüren dennoch die Kraft des Bildes, mit dem sie ihre LP betiteln: Dark Side of the Moon. Noch ist hier die stärkste Metapher der Zeit nur ein Titel. Zum Programm wird sie erst mit PINK FLOYD.

Der von Waters gewünschte Titel ist besetzt und lockt zum Kauf einer anderen Platte, der von MEDICINE HEAD. PINK FLOYD muss warten, wie erfolgreich das Konkurrenzprojekt sich gestaltet. Geradezu manisch ist Waters auf seine Titelidee fixiert. Wider aller ökonomischer Vernunft warten PINK FLOYD ein ganzes Jahr auf ihren Titel, bis sie es wagen, ihn für ihre Scheibe benutzten zu können, ohne mit MEDICINE HEAD verwechselt zu werden. Sie akzeptieren die zahlreichen Bootlegs ihres Programms. Eine Raubpressung tritt so professionell auf, dass sie für ein offizielles Album gehalten wird. Sie verkauft sich über 100.000 Mal.

Für PINK FLOYD ist der Mond und seine dunkle Seite eine Metapher zur Analyse der frühen 70er. Ein Sampler des Jahres vollzieht diese Übertragung auf das Gemeinte:  Manchmal bedeckt das Dunkle unsere Welt.