In der Tat, es gibt 1972 auch zwei Hits, die das Goldene thematisieren. NEIL YOUNGs Heart of Gold ist deshalb eine traurige, kitschige Ballade, weil sie darüber jammert, das goldene Herz zu suchen, aber nicht zu finden: Gold bleibt ein unerreichter Wunsch. Auch Marc Bolan kriegt nicht, was er will: „I can‘t get no satisfaction, all I want is easy action, baby“. Er karikiert hier nicht nur das Stones-Zitat, sondern spielt mit dem Songtitel Solid Gold – Easy Action – wie er das immer gerne macht – mit literarischen Verweisen. Robert Frosts Gedicht Nothing Gold Can Stay erklärt ebenso wie Neil Young das Gold zu einem Mangel. Gold ist immer abwesend, es fehlt, auch wenn es scheinbar existent ist: All That Shines Ainn’t Gold bemerken THE SOUL CHILDREN. Silber dagegen ist präsent und greifbar, identifikationsfähig. So beschreibt Marc Bolan offenbar sich selbst „He’s a silver-plated poet”(Rock On).
Wer Silber sagt, sagt auch immer schon Gold, nicht nur sprichwörtlich: Reden ist Schweigen, Silber ist Gold. Ist die Silbermedaille nur ein Gewinn oder nur zweitrangiger Trost? Gold ist in der Pop-Musik des Jahres 1972 nur die Kontrastfolie, die dunkle Seite des Silber, der große Bruder, das unerreichte Vorbild, an dem aber zugleich das silberne Selbstbewusstsein wächst. 1972 kommt das Silber zu sich selbst, Silber ist die Farbe des Jahres, Silber ist die Haltung der Stunde, Silber ist das neue Gold. „They say there’s gold but I’m looking for thrills.” PINK FLOYD verabschiedet 1972 das Goldene (Zeitalter) und überlässt es jedem, wohin man es entsorgt: The Gold it’s in the …
Gold ist anziehend, erwärmend und aktivierend, aber woanders, weit weg. Silber ist neutral, integrierend und durch seinen bescheidenen Glanz nicht verdrängend, hat aber zugleich etwas Kühles und Abweisendes. Silber ist die Farbe der Distanz, der Höflichkeit und der kühlsten Form von Zuneigung. Silber assoziiert Intellekt, Klugheit, Genauigkeit.
Silber hat natürlich einen mythologischen Ursprung. Argos der Riese ist der alles sehende Wächter des Firmaments. Er hat hundert Augen, die nie alle gleichzeitig schlafen. Die Sterne sind die silbern blinkenden und geöffneten Augen, mit denen Argos ‚mit Argusaugen‘ am Sternenhimmel wacht. Frau Luna, die blau gekleidete Frau, die auf dem silbernen Mond wohnt, fährt in der Nacht mit von einem Hirschen gezogenen Schlitten am Himmelszelt spazieren. In einer Mondnacht erscheinen die Sterne, das Wasser, das Pappellaub, das Birkenlaub in silbernem Glanz. Kein Wunder, dass neben dem Silbernen der Mond das Symbol des Jahres ist. Die einzige Veröffentlichung des Reggae-Sängers EDSON MORGAN ist die 72er Single Silver Moon – damit ist alles gesagt.
Silber ist die Farbe der Nacht, der Magie des Zaubers und des Außerirdischen. Magier und Zauberer, Feen, Aliens und Astronauten erscheinen oft in silbrigen Anzügen.
Silber ist das schnöde Geld, das dennoch adelt. So feiert DR.HOOK die Queen of the Silver Dollar und GRAND FUNK RAILROAD verwandeln ihre Platte in eine Silbermünze. Der Silbergroschen, Silver Coin (BRIDGET ST. JOHN), wird seit Judas mit Habgier, Geiz und sogar mit Unmoral in Verbindung gebracht. Ein Silberblick schielt nach dem Geld, um etwas zu versilbern. Silber demonstriert aber auch Eleganz, Stil und bewusste Bescheidenheit, immerhin speisen wir festlich mit dem Tafelsilber.
Silber ist modern, technisch und fortschrittlich, Silber ist schnell. Silberpfeile, Flugzeuge, Raketen, Lokomotiven und Autos sind aus modernen, silbrigen Leichtmetallen gefertigt. Silver Meteor heißt ein Zug von New York nach Florida, den CASEY KELLY besingt. In Silverstone (JOY UNLIMITED) finden Autorennen statt
Silber als die symbolische Farbe des Jahres 1972 verdichtet sich nirgendwo eindrucksvoller als in HAWKWINDs größtem Hit, in einem der prägenden Songs des Jahres: Silver Machine. Nur als Single erschienen, gibt es den Song auch als EP, natürlich ganz in Silber.
HAWKWINDs Sänger und Autor Bob Calvert erzählt, Alfred Jarrys Essay „How to Construct a Time Machine“ (1965) habe ihn zu dem Song motiviert. Seit der Gründung 1969 gilt die Band als Protagonistin des Space Rock und repräsentiert ein zentrales Thema der Zeit, die von der Entdeckung des Alls träumt und Menschen auf den Mond schickt.
„Everyone thinks ‚Silver Machine‘ is some sort of sci-fi epic, but in actual fact it was a send-up – it was about a bicycle!“ Calvert behauptet hier, sein Song sei eine Parodie auf den spacigen Zeitgeist, und banalisiert die silberne Maschine auf ein Fahrrad. Diese Wendung ist nicht so ganz wirr, denn Jarry selbst zieht diesen Vergleich heran. „The Machine consists of an ebony frame, similar to the steel frame of a bicycle.“ Sein Song, sagt Calvert, „full of really good physics“, sei nichts weiter als „a good joke“. Doch diesem täuschende Ablenkungsmanöver muss man natürlich nicht aufsitzen. Im Gegenteil: Diese scheinbare Reduktion auf eine Banalität bietet nur eine Variante der breiten Streuung von Deutungen, denn die Silvermachine „could have been anything – a spaceship, a motorbike, a hypodermic needle, anything which gives you freedom.“ Silvermachine ist eine leere Variable, ein metaphorischer Container, den jeder assoziativ füllen kann, ebenso wie die Freiheit, die man den Weiten des Universums andichtet.
Ohne es explizit zu sagen, verweist der Song auch auf eine andere Idee aus Jarrys Text. Die Zeitmaschine konstruiert die Zeit neu. Sie ist – wie der Optimismus der frühen 70er – ausschließlich auf die Zukunft ausgerichtet, „the machine always moves toward the future“, aber sie konstruiert aus ihrer Zukunft eine neue Vergangenheit, die unsere Gegenwart ist. Wenn Alfred Jarry Deutsch könnte, hätte er auch sagen können: Futur II. Doch er findet einen anderen Begriff für den Effekt seiner Zeitmaschine. Es gibt ein „dead center between future and past“ und diesen toten Punkt nennt er „the Imaginary Present“.
Silvermachine ist der Song des Jahres, denn in der silbernen Maschine findet das Jahr sein metaphorisches Bild. Die Utopie der kühlen modernen Technik, die unsere entfremdete Welt transzendiert und den Raum unendlicher Freiheit öffnet, dockt an eine imaginäre Gegenwart an, die den silbernen Glamour als trügerischen Glanz der eigentlich tiefen Nacht enttarnt. Die Metapher Silvermachine ist ein Update des Januskopfes und macht die zwei Seiten einer (Silber)Münze evident.
Eine Reihe von Songs des Jahres spüren diese silbrige Ambivalenz und füllen den Metapherncontainer mit ihren Varianten.
Marc Bolan hat sich vom Solid Gold verabschiedet und ersetzt es durch den Metal Guru mit einem „silver-studded sabre-tooth dream”. Ist nicht der Säbelzahntraum schon schillernd genug, erlangt er als ein silberner magische Intensität. T.REX ist damit auf einer Linie mit URIAH HEEP. The Wizzard erzählt ebenso von einem silbrigen Traum. „And I will dream of my magic night, and a million silver stars that guide me with their light.” Und Poet’s Justice nennt einen „silver stream”, der zwischen Liebe und Traum oszilliert: „Find my love or let me dream.” ICARUS öffnet dagegen ein breites Metaphernspektrum für den Silver Surfer.
JEFFERSON AIRPLANEs LP-Titel Long John Silver verweist auf den Protagonisten in Robert Louis Stevensons Roman Die Schatzinsel. Dieser erzählt von der dunklen Seite des ehemaligen Seemanns John John Silver, der sich humorvoll und gönnerhaft gibt, sich dann aber als ein hinterhältiger und verschlagener Mörder entpuppt. Mit der Silver Pistol weckt BRINSLEY SCHWARZ die zeitgemäß üblichen Drogenkonnotationen, zeigt aber auch das Silber als die Erscheinung einer technisch kühlen Waffe. „Living down on the Avenue with a silver pistol to blow his brains.” Auch die Silver Ships Of Andilar, von denen TOWNES VAN ZANDT singt, assoziieren eine eiskalte Tolkien-Welt.
Der trügerische Silberglanz erscheint im Silverspoon von URSA MAJOR noch recht unschuldig, aber selbst das Tafelsilber ist ein Wahnsinnsinstrument. Die Witchy Woman der EAGLES „drove herself to madness with a silver spoon”. Das moderne, technikaffine Silber hinterlässt auch seine Spuren in 72er Songs. LIGHTHOUSE besingen den Silverbird, LEO SAYER benennt sein Debüt-Album mit dem Titel Silverbird, Name einer erträumten deutschen Wunderwaffe. „Get on the silverbird and fly away.” KRAAN bittet darum, gerade das nicht zu tun. „Hey, hey Girl, don’t fly away out of my window I don’t either take a silver wings.“ Und selbst als Bild auf einem Kaugummi wirkt die kühle silberene Flugzeugtechnik für die Band BRAINTICKET. „He always brought you a chewing-gum with a silver aeroplane on it.”
Ein edler Glanz umgibt für BRIAN GADD den Silver City Birthday Celebration Day, aber es ist nur eine Hoffnung darauf, was das Silber verspricht: „Silver sequins flashing hope they‘re goin my way“.
Die Band SILVERHEAD hat viel vor und adaptiert alle Accessoires, die man für eine erfolgreiche Glam-Rock-Band so braucht, so auch das Silberne. Doch mehr fällt der Band dazu nicht ein, ihr Song Silver Boogie bleibt wortlos. Das Silber glänzt hier nur an der Oberfläche, öffnet keinen metaphorische Anschluss. Dieses ambitionierte Bandprojekt scheitert schnell: Potential verschenkt. Auch die Band QUICKSILVER MESSENGER SERVICE hat mit Silber nicht viel zu tun, denn das Metall Quecksilber verweist auf den Merkur, der die Sternzeichen der Bandmitglieder verbindet. Silver ist auch ein gängiger Name. So verweist der Stadtteil von L.A., Silver Lake, von dem JACKSON BROWNE singt, auf den Politiker Herman Silver.
Silber ist die Farbe des Jahres, sie bietet ein unerschöpfliches metaphorisches Potential, in dem der Zeitgeist eine Heimat findet. Kein Wunder, dass eine Reihe von LPs in silberne Cover eingepackt sind. NICK PICKETT sagt ausdrücklich, was er zeigt: Silversleeves. Die Schweizer Band IF gestaltet ihre Scheibe 4 ganz in Silber: Silberne Schrift auf silbernem Grund. Die Band MORNING betitelt ihr 72er Album Struck Like Silver. Das Cover zeigt gestapelte Silberbarren. Die Koppelung von Silber und Geld bringt GRAND FUNK RAILROAD auf die naheliegende Pointe und gestaltet die runde Vinylscheibe als Silbermünze.
Im Osten ist man konsequenter. Das Silber-Cover der ungarischen Band OMEGA presst nicht silbere Farbe auf die Pappe, es besteht aus silbernem Blech.
Doch hinter dem äußeren Glanz des Geldes erscheint eine silbrige Innerlichkeit im Gewand verträumter, entrückter Jugendstil-Ästhetik eines Mucha. TRANQUILITY entdeckt auf ihrer schlicht Silver betitelten LP die glänzende Innenseite und fragt irritierend nach Hilfe. „Silver is in me more than a friendly brown who do I turn to now.“
