Warum 1972?
Die Band JANUS produziert ihre einzige Platte, Gravedigger, 1972 in Deutschland. Der römische Gott Janus ist ein Gott des Anfangs und des Endes. Es muss schon ein Gott für die Zeit zuständig sein, denn „Zeit macht nur vor dem Teufel halt“ (BARRY RYAN). Die zwei Seiten der Zeit und aller Dinge finden bekanntlich im Kopf mit den zwei Gesichtern ihren bildlichen Ausdruck.
Das Lebensgefühl im Jahr 1972 findet in diesem mythologischen Erbe einen metaphorischen Ausdruck. Der Schritt vom antiken Rom zur Pop-Kultur der frühen 70er ist kurz:
„Janus Records“ nennt sich ein us-amerikanisches Plattenlabel, das seit 1969 Platten von Künstlern zwischen Rock, Soul und Jazz veröffentlicht und eine Reihe von Hits produziert. Janus ist das Label der Stunde. Das Janusgesicht presst die Amivalenz des Jahres metaphorisch auf das Label einer LP, die wie das Jahr zwei Seiten hat:
Im Vertrieb von Janus Records stand die Funk-Band OHIO PLAYERS. 1972 brachte sie zwei LPs auf den Markt, die ebenso metaphorisch wie das Label selbst die beiden Seiten des Jahres in zwei Vinylscheiben materialisierten: Pain und Pleasure. Die Cover rücken die scheinbare Opposition zwischen Schmerz und Freude in eine unheimliche Nähe. Letztlich sind sie austauschbar. Was wollen uns die Posen des Models Pat Evans sagen? Pain is pleasure. Pleasure is pain? 1972 ist zugleich eine quälende Freude und die Lust im Leid.
Janusgesichter schmücken Plattencover eines Jahres. Zwei Gesichter zeigen VAUGHAN THOMAS, SHAWN PHILLIPS, TOM PAXTON und JOE E. COVINGTON
Nicht nur zwei Seiten, sondern 360 Degrees hat BILLY PAUL zu bieten.
Und STEVE TILSTON präsentiert sich selbst als gespaltene Persönlichkeits-Collection.
Um die Signatur eines Zeitalters zu bestimmen, war die Rockmusik vielleicht nie so wichtig wie zu Beginn der 70er Jahre. 1972 ist ein janusköpfiges Jahr. In einem antiken Drama wäre dieses Jahr die Peripetie, Höhe- und Wendepunkt zugleich. Spektakuläre Marksteine der Rockgeschichte (z.B. die vermutlich besten Alben von DAVID BOWIE: Ziggy Stardust, DEEP PURPLE: Machine Head, JETHRO TULL: Thick As A Brick, LOU REED: Transformer, NEIL YOUNG: Harvest; THE ROLLING STONES: Exile On Main Street, ROXY MUSIC), eine selbstbewusste deutsche Avantgarde voller weltoffener Experimente, Anfänge großartiger Erfolgsgeschichten (etwa Debüts von NEU!, GROBSCHNITT, JANE, KRAAN, KLAUS SCHULZE, SCORPIONS, WALLENSTEIN in Deutschland, AEROSMITH, BLUE ÖYSTER CULT, BRUCE SPRINGSTEEN, EAGLES, MICHAEL JACKSON solo, QUEEN, ROXY MUSIC als internationale Debüts), die Erfüllung des Traumes von einer politisch relevanten Rockmusik, die es vermag, eine falsche Welt mit Love & Peace zu verzaubern und zu verwandeln, machen das Jahr zu einem herausragenden in der Geschichte der Popkultur. Aber in den euphorischen Anfängen steckt zugleich der Anfang vom Ende. Nach ihrem einmal erlebten Höhepunkt zerfallen alle Verheißungen in ihr Gegenteil, zerrinnen in kommerzielle Beliebigkeit, in affirmativen Disco-Sound oder punkige Anarchismussimulation.
Janus ist der Namensgeber des Monats Januar. Am ersten Tag im Janusmonat, dem ersten Tag des Jahres 1972, kreieren PINK FLOYD eine andere Metapher für ihre janusköpfige Zeit und erforschen die dunkle Seite eines Mondes, der es nicht mehr schafft, Nächte zu beleuchten. Dark Side Of the Moon: Für diesen starken metaphorischen Titel eines Jahres verschiebt Roger Waters die Veröffentlichung seiner musikalischen Vision um ein ganzes Jahr und wird sich durch die totale Mondfinsternis am 30. Januar bestätigt fühlen.
Janus und Mond: Unter diesen Bildern versammeln sich Storys um ein Jahr der Popgeschichte, das wie kaum ein anderes Traum und Alptraum der Pop-Musik manifestiert.
Das auf dieser Seite gesammelte Material beleuchtet mosaikartig Aufbrüche und Abbrüche, Optimismus und Resignation einer Zeit, die die Musik zum existentiellen Medium deklariert, sie als das Medium des Zeitgeistes aufheizt, in dem alle Wünsche, Verheißungen, aber auch Ängste und Ahnungen ihren signifikanten Ausdruck finden. Nie erhielt die Pop-Musik einen höheren kulturellen Wert. Die Energie, die dieser kurze Moment einer transzendentalen Bedeutung produzierte, strahlt bis heute. Im März 1973 veröffentlicht PETER BANKS sein Album Two Sides of Peter Banks mit Aufnahmen von 1972 und 1973. Auf der Schwelle des Jahres zeigt das Cover die beiden Seiten eines Epochenumbruchs.
Wie die Rockmusik und Popkultur die helle und dunkle Seite des Mondes oder die beiden Gesichter des Gottes Janus zu ihrem Thema macht, kann man auf dieser Seite erschließen.
Wie wäre es, auch in anderen Ereignissen des Jahres seinen Januskopf zu entdecken und die helle mit der dunklen Seite zu kontrastieren, epochale Wenden zu bemerken:
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Seit Januar, dem Monat des Gottes Janus, schützt der sog. Radikalenerlass die freiheitlich demokratische Grundordnung – – – mit der Verhaftung von Baader, Meins, Raspe, Ensslin und Meinhof im Juni ist die RAF an ein allerdings nur vorläufiges Ende angekommen.
- Im Januar, dem Monat des Gottes Janus, sendet die ARD die erste Sendung mit der Maus und DDR-F1 zum ersten Mal Ein Kessel Buntes – – – einen Tag später, am 30.1., verdunkelt sich der Nachthimmel durch eine totale Mondfinsternis.
- Am 16.1. wird das „Fräulein“ in der Amtssprache abgeschafft – – – der erste deutsche Playboy erscheint am 1. August.
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Am 17.2. rollt ein Käfer 1302 S in Blaumetallic vom Band. Es ist der 15.007.032 Käfer. Der VW übertrifft damit das Model-T von Ford und ist nun das meistgebaute Auto der Welt. – – – Bald bricht der Erfolg des Käfers ein und er wird nur zwei Jahre später vom Golf abgelöst.
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Die Raumsonde Pioneer 10 startet am 3.3., um unser Sonnensystem zu verlassen und Kontakt zu Außerirdischen aufzunehmen – – – im Dezember hüpfen zum letzten Mal Menschen durch die staubige Mondwüste.
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Am 14.3. wird unter einem Hochspannungsmasten nahe Mailand die Leiche von Giangiacomo Feltrinelli gefunden, Millionär und Europas erfolgreichem Verleger. Inspiriert von Che Guevara, dessen Foto er zur Pop-Ikone designt hat, ist er Opfer seines eigenen Terroranschlags geworden.
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Am 15.5. hebt die Bundeswehr den „Haar-Erlass“ auf. Soldaten mit langen Haaren müssen es nicht mehr in einem Haarnetz verstecken.
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Am 23.6. wird Zinedine Zidane geboren, der am 9.7.2006, im Endspiel der WM, der ganzen Welt die dunkle Seite seines Gesichtes eröffnet.
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Die BRD wird mit der für lange Zeit spielstärksten Mannschaft am 18.Juni Europameister und Schalke 04 mit der für lange Zeit besten Mannschaft Pokalsieger (Nigbur, Huhse, Fichtel, Rüssmann, die Kremers-Zwillinge, Lütgebohmert, Scheer, van Haaren, Libuda, Fischer) – – – Bayern München wird Meister.
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Vom 11. Juli bis zum 1. September duellieren sich Bobby Fischer und Boris Spasski im Schachspiel. Dieses Weltmeister-Finale wird als metaphorischer Höhepunkt des Kalten Krieges verstanden – – – nahezu parallel zum Abrüstungsabkommen Salt I zwischen Nixon und Breschnew.
- Die Olympischen Spiele von München zeigen der ganzen Welt die Wandlung Deutschlands zu einem weltoffenen, heiteren, endgültig entnazifizierten Land – – – bis Terroristen die neue Idylle zerstören und der alte Zynismus obsiegt: „The games must go on.“
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Am 6. 9., am Tag, als die Befreiung der israelischen Geisel am dem Münchner Flughafen scheitert, erscheint der Roman Der kurze Sommer der Anarchie von Hans Magnus Enzensberger, der allegorisch das Experiment des spanischen Bürgerkriegs thematisiert. Neben PINK FLOYDs Metapher von der dunklen Seite des Mondes findet das Jahr 1972 in diesem Titel eine weitere, kongeniale Metapher.
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1972 sieht sich das Nobelpreiskommitee außerstande, einen Preiswürdigen zu finden. Es ist eines der wenigen Jahre, in denen kein Friedensnobelpreis vergeben wird.
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„Systemverhalten tendiert eindeutig dazu, die Wachstumsgrenzen zu überschreiten und dann zusammenzubrechen.“ Der Club of Rome warnt eindringlich vor dem Kippmoment, der Zerstörung unseres Heimatplaneten – – – Heinrich Böll erhält den Nobelpreis für Literatur.
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1972 hat das natürliche Bevölkerungswachstum in Deutschland ein Ende erreicht. Seit 1972 sterben jährlich in Deutschland mehr Menschen, als geboren werden.
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Am 9.12. strahlt Radio Bremen die letzte Folge des BEAT-CLUBs aus. Damit endet der Versuch, experimentelle und progressive Rockmusik im deutschen Fernsehen einem breiten Publikum anzubieten. Das Volk möchte aber lieber die Charts orientierte Nachfolgesendung MUSIKLADEN sehen oder sich an Ilja Richters Disco oder Dieter Thomas Hecks ZDF-Hitparade erfreuen. Oder es verweigert sich jeglicher Neuerung. Seit dem 31.12.1972 feiert Deutschland die ewige Wiederkehr des Gleichen und sendet seitdem jedes Jahr den Silvestersctech „Dinner for one“.
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Am 30.12. hält der Meteorologe Edward Lorenz auf der Jahreskonferenz der American Association of the Advancment of Science in Washington einen Vortrag, der ihm sein Kollege Philip Merilees formuliert hatte. Am Ende dieses Jahres 1972 vermacht er der Welt den Schmetterlingseffekt.
Seine Frage „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“ ist zu einem allegorischen Mythos geworden, der nach einer euphorischen Epoche des Optimismus ahnt, dass es eine dunkle Seite des Fortschritts gibt. Lorenz‘ Vortrag kann auch als ein metaphorischer Kippmoment der modernen Geschichte verstanden werden. Er bringt auf den Begriff, was die Popmusik des Jahres ahnt, es sind Butterfly Days (MCBRIDE).Das metaphorische Potenzial des Schmetterlings, in seiner Fragilität eine Wende zu illustrieren, nutzte auch schon Karl Marx, der zur Vorbereitung seiner Dissertation 1840 schreibt: „So sucht auch der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen ist, das Lampenlicht des Privaten.“ Der Schmetterlingseffekt des Jahres 1972 erlebt den Untergang der allgemeinen Sonne und wird sich dann resigniert in die Privatheit flüchten.
Bis Mai war DANIEL GERARDs Hit Butterfly in den Charts, das Label Elektra hat sich einen Schmetterling als Logo ausgesucht.
Schmetterlings-Effekte schmücken Cover des Jahres: GYPSY, CHRIS BRAUN BAND, ABACUS, THE SIEGEL SCHWALL BAND, MCBRIDE, VICTOR JARA.