Schuhe: Sex-Fetisch, Ware, Wahrheit.
Die französische Band CATHARSIS spielt auf dem Cover ihres ersten Albums auf den sexuellen Mehrwert von Schuhen an. Schummriges Kerzenlicht, eine Rose, Trauben erstellen die mysteriöse Atmosphäre einer unbelebten Erotik. Sigmund Freud glaubt, dass vor allem der Fuß und der Schuh Fetischobjekte seien, die als Penisersatz über die Kastrationsdrohung triumphieren. Der Schuh-Phallus zeigt mit seiner Spitze auf das von einem kleinen Hügel umformte tiefe schwarze Loch in der Mitte. Ob die Band CATHARSIS eine psychische Reinigung von der verdrängten aggressiven Sexualität verspricht, wenn man ihre Platte hört, sollte das geneigte Publikum mal selbst testen, eventuell experimentell mit oder ohne Damenschuh.
Naja, für Freud ist ja alles, was mehr lang als breit ist, ein Phallussymbol. Vielleicht führt aber doch die allgemeine Definition eines Fetisch weiter. Es ist schlichtweg ein Ding mit einem symbolischen Mehrwert.
Das weiß jeder Jugendliche, der sich Sneakers kauft und nicht nur praktische Schuhe für den Sport und Alltag erwirbt, sondern sich mit dem Kauf einer bestimmten Identität verpflichtet. Hip-Hopper favorisieren seit RUN DMC Adidas-Schuhe, der entspannte Rock‘n‘Roll-Lebensstil trägt Converse All-Star-Chucks wie James Dean, Elvis oder Kurt Cobain, Nikes Air Jordan war mal ein Symbol der Rebellion, ein Original wird aber heutzutage bei Christies für über 600.000 Dollar versteigert und New Balance Sneakers werden wegen des großen N von den Neonazis okkupiert.
Der Schuh als Fetisch zeigt somit kulturgeschichtlich auch, wie sich ein symbolisches Objekt der Subkultur in ein Status-Objekt verwandeln kann, das nur noch Reichtum signalisiert. Das hat allerdings schon Karl Marx in dem berühmten Kapitel seines Hauptwerkes Das Kapital auf den Punkt gebracht, wenn er vom „Fetischcharakter der Ware“ spricht. Irgendwann zeigen Schuhe nur noch, wie dick das Portemonnaie des Schuhträgers ist.
Auf den Schuh als Waren-Fetisch verweist das Cover der Band FIVE DOLLAR SHOES. Ihre einzige Platte, deren Cover aber eine Grammy-Nominierung erhielt, zeigt mit dem kindlichen Schuhputzer eine klassische Szene gesellschaftlicher, ökonomischer Hierarchien. Ihr Name setzt dem aber geradezu trotzig eine Anti-Status-Haltung entgegen. Die lange Tradition von Five-Dollar-Warenhäuser in den USA kann man auch als Rebellion gegen die Effekte der Status-Symbolik von Schuhen verstehen.
Schuhe haben immer eine zusätzliche Bedeutung. Eine totale Verweigerung der sexuellen oder ökonomischen Schuh-Symbolik erzielt man nur, wenn man die Schuhe auszieht. Die aktuelle Grounding-Bewegung feiert das Barfußlaufen. Ohne Schuhe verbinden wir uns wieder mit der Erde, negative Ionen gelangen von der Erdoberfläche in unseren Körper, neutralisieren die freien Radikalen und führen zur mentalen Gesundheit.
BAREFOOT JERRY trägt die Anti-Schuh-Bewegung schon im Namen. Naiv gemalt, aber ganz authentisch wachsen die nackten Füße zu einem ganz großen Standpunkt der Natürlichkeit.
Dass wir uns hier in einem kulturellen Konflikt befinden, zeigt die amerikanische Band BOOT. Hier prallen die Barfuß-Ideologen auf die Stiefel-Fraktion mit ihrem gewissen aggressiven Potential. Stiefel sind immer ein Symbol für Herrschaft und Macht. Mit ihrem Namen entscheidet sich die Band klar für die Schuh-Kultur.
Schuhe sind prominente Sex-Fetisch-Objekte, Schuhe sind Identitäts- und Status-Signale, sind Symbole für eine Zivilisation, die die Natur überwunden hat: ganz schön viel Bedeutung für ein Kleidungsstück. Man kann dagegen rebellieren, wenn man das Barfuß-Laufen zur Ideologie erhebt, man kann die Fetische aber auch selbst dekonstruieren. Zerschlissene, kaputte Schuhe eignen sich wohl kaum als Fetisch. Wer wird schon sexuell erregt, wenn er an diesem Schuh schnüffelt oder ihn als Ersatz für die begehrte Frau mit ins Bett nimmt? Schuhe sind auch nur Dinge für den Gebrauch, die irgendwann Sracps werden, zerfetzter Abfall.
Das eindrucksvollste Schuh-Cover aus dem Jahr 1972 präsentiert die Band WET WILLIE, die einen recht unspektakulären klassischen Rock‘nRoll pflegt. Für das Cover war der prominente Fotograf Barry Feinstein verantwortlich, der berühmte Fotos von Bob Dylan oder George Harrison schoss und ebenso berühmte Cover gestaltete, z.B. Für Clapton, Janis Joplin oder die Stones.
Dieses Cover zitiert ein großes Rätselbild der Kunstgeschichte. Das Bild „Schuhe“ von Vincent van Gogh führte zu einem heißen Philosophenstreit. Van Gogh malte 1886 Schuhe, die er auf einem Pariser Flohmarkt erworben hatte. Aber schon der Tatbestand dieser Schuhe ist umstritten. Sind es Schuhe einer Bäuerin oder eines Städters, sind es nicht eigentlich zwei linke Schuhe und gar kein Paar? Verweist die merkwürdige Schlinge der Schnürsenkel auf ein fetischiertes Begehren, wie Jacques Derrida mutmaßt, wie man als Philosoph wohl immer an Sexfetische denkt, wenn man Schuhe sieht, selbst solche doch ziemlich unerotische.
Kernpunkt des Streits ist die Deutung von Martin Heidegger in seiner Vorlesung von 1935: Der Ursprung des Kunstwerks. Für Heidegger zeigt sich in VanGoghs Schuhen das Wesen der Kunst und das ist nicht weniger als Die Wahrheit schlechthin, „das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“. Heidegger denkt, wie es sich für einen wahren Philosophen gehört, ganz ganz groß. Er fragt: was ist die Wahrheit von allem, die Wahrheit des Seins? Eigentlich wissen wir nicht so genau, was die Wahrheit ist, sie bleibt uns verborgen. Heidegger behauptet nun, im Bild von irgend so einem alten Zeug, z.B. Von zerschlissenen Schuhen, gelingt die Sichtbarkeit von Wahrheit. „Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit seines Seins heraus.“ Und das sei das Wesen der Kunst: sie macht die Unsichtbarkeit der Wahrheit sichtbar.
Also: Wer nach der Wahrheit des Ganzen sucht, sollte sich ein Kunstwerk anschauen, vor allem eines, das so unspektakulär daherkommt und zwei alte Schuhe zeigt.
Wenn jetzt das Cover einer Rockband unverhohlen vanGogh zitiert, übernimmt sie selbstbewusst, man könnte auch sagen: frech Heideggers Deutung und stellt eine steile These auf: Im Plattencover als Kunstwerk tritt die Wahrheit in das Sein, hier erscheint im Licht des Seins der Sinn der Welt: größer geht es wirklich nicht mehr!
In allen meinen Cover-Deutungen behaupte ich einen metaphorischen Mehrwert, eine tiefere Bedeutung des Cover-Bildes. WET WILLIE, der nassforsche Wilhelm, schraubt diesen Ansatz auf einen nicht mehr zu überbietenden Höhepunkt. Das Plattencover zeigt uns die Wahrheit der Welt, zeigt uns den Sinn von allem, gerade in der Darstellung von zerschlissenen Schuhen.
Und dann passt es natürlich auch, dass nicht nur die Schuhe, sondern das Cover selbst in einem etwas bedauernswerten Zustand erscheinen. So wird ein Schuh draus.