Nacktheit und Scham
(lesen oder zuhören und zusehen: https://www.youtube.com/watch?v=iBlum5ozhN4&t=19s)
Ok, dies ist ein sehr schlichtes Mittel, um Ihre knappe Ressource Aufmerksamkeit anzuzapfen: eine nackte Frau. Denn trotz aller, inzwischen sogar staatlich bestimmter Selbstbestimmung schnappt doch unwillkürlich der Automatismus des evolutionären Erbes ein. Männer sind erregt, Frauen neidisch, wenn sie einen schönen, hüllenlosen weiblichen Körper erblicken.
Das haben sich wohl auch die 1972 schon etwas älteren belgischen Herren gedacht, die als Studiomusiker seit 1958 als CHAKACHAS Platten veröffentlichen, schon in den 60ern gerne mit wenig bekleideten Frauen auf dem Cover, hier nun jedoch mit einer vollständig nackten Frau, die nur eine hübsche Karnevalsperücke trägt. Sie erlagen wohl dem Mythos Sex sells, der sich allerdings jüngst als falsch herausgestellt hat: Sexualisierte Werbung erhöht zwar die Aufmerksamkeit, führt aber nicht zum Kauf des Produkts. Und so blieb auch diese LP nur ein bescheidener Erfolg für die Band.
Aus heutiger Sicht spricht das Ablegen aller Kleidungsstücke für einen anderen Mythos. Die frühen 70er gelten gemeinhin als eine Zeit der großen Freizügigkeit. Die sexuelle Revolution hat sich durchgesetzt, die Befreiung von bürgerlichen Konventionen ist endgültig gelungen. Endlich gibt es ein entspanntes, authentisches, natürliches Verhältnis zur Sexualität. Einen starken Ausdruck findet diese neue Freiheit im nackten Körper. Die über Jahrhunderte währende, repressive kulturelle Disziplinierung ist nun beendet. Sie hatte es geschafft, Nacktheit mit dem Gefühl der Scham zu koppeln, ein System, das wunderbar als Selbstzensur, als Eigenkontrolle funktionierte. Damit ist jetzt Schluss.
Schamlos können sich junge Leute auf dem Plattencover in ihrem neuen körperlichen Selbstbewusstsein präsentieren. Zwischen grüner Wiese und weitem Himmel befreien sich die Körper von der Kleidung und damit von der einengenden Ordnung der bürgerlichen Moral. Wie die ornamentale Bemalung zeigt, ist es nicht etwa eine FKK-Kultur, eine vermeintliche Rückkehr zu einer imaginierten Natur, sondern es ist ein Akt der kulturellen Aneignung. Die Botschaft lautet: Unsere Freiheit ist nicht nur eine gedankliche, sondern sie ist ganz materiell, naturalistisch: Mein Körper gehört mir.
Zwischen diesen beiden Plattenhüllen aus dem gleichen Jahr 1972 besteht eine tiefer Graben, ein kultureller Bruch. Einmal wird der freizügige Zeitgeist der selbstbestimmten Körperlichkeit in schamloser Art und Weise als Aufmerksamkeitsfänger instrumentalisiert, der aber das Tabu braucht, um es zu überschreiten. Diese nackte Frau stabilisiert letztlich ein Moralsystem, von dem es sich vordergründig befreit hat.
Demgegenüber demonstrieren diese Kinder der Revolution eine neue Welt der authentischen Natürlichkeit. Der nackte Körper ist nicht mehr Objekt einer phallischen Sexualisierung, sondern Ort einer aufgeklärten Autonomie inmitten gleichgesinnter Leiblichkeit.
Der Kontrast dieser beiden Plattenhüllen spiegelt einen Streit in der Kulturtheorie wider. Norbert Elias hat behauptet, dass der Prozess der Zivilisation unter anderem in der Entdeckung und gesellschaftlichen Etablierung von Scham bestand. Während die Menschen naiver Kulturen im Einklang mit der Natur nackt herumliefen und man selbst noch im Mittelalters ungeniert furzte, rülpste und rumvögelte, installiert die „zivilisierte“ Gesellschaft Peinlichkeitsgesetze. Sexualtabus sind also das Ergebnis einer fortschrittlichen Zivilisation, dienen aber zugleich einem Herrschaftsanspruch von Staat und Bürgertum, indem sie die natürliche Freizügigkeit des Körpers unterdrücken.
Diesen Prozess einer fortschrittlichen Zivilisation hat Hans-Peter Duerr als einen Mythos entzaubert. Er weist nach, dass es in allen uns bekannten Kulturen niemals und nirgends unschuldige Nacktheit gegeben hat. Scham und Triebkontrolle sind immer schon da, z.B. in komplexen Mechanismen erlaubter und verbotener Blicke in Nacktkulturen.
Wie sind also die nackten Körper auf den Covern der frühen 70er zu deuten? Zeigen sie, dass wir uns von der bürgerlichen Unterdrückung befreit haben? Finden wir endlich zurück zu einer authentischen Natürlichkeit?
Wenn man sich die befreite Nacktheit der jungen Musiker in der grünen Natur genau ansieht, fällt auf, dass Genitalien nicht zu sehen sind. Zufällig werden sie von Instrumenten, einem herumliegenden Stein oder dem ausgestreckten Bein der Frau verdeckt. Die neue Natürlichkeit, gefeiert als Revolution gegen die repressive bürgerliche Moral, verhüllt in geschickten Posen bestimmte Teile des Körpers. Sie bleiben, was sie waren: Schamteile.
Zur neuen Freizügigkeit in den 70er gehört auch das Bekenntnis zu einer Sexualität, die nicht den Normen entspricht. Peter Straker ist bekennender Schwuler und später eine enger Freund von Freddy Mercury. Er feierte Erfolge als Sänger im Musical Hair, bevor er 1972 seine erste eigene LP herausbringt, die mit ihrem Titel Private Parts offensiv seine Homosexualität demonstriert. Straker zeigt sich nackt, aber ebenso wie die Musiker der Band ANALOGY nutzt er seinen Körper als Projektionsfläche, hier mit einer Karte seiner neuen Heimat Hampstead Heath in London, wo er nach seiner Emigration aus Jamaica im Jahr 1955 lebt. Seine Private Parts, die er im Titel der LP ankündigt, bleiben aber privat. Das Bild seines nackten Körpers endet kurz vor der Sichtbarkeit des eigentlich Versprochenen. Kann man also auch hier erkennen, dass die Freizügigkeit doch eine Peinlichkeitsgrenze hat, nämlich am unteren Rand des Covers? Bleiben die Private Parts Schamteile, tabuisierte Zonen eines funktionierenden Moralsystems?
Auch auf dem großartigen Cover von Terry Callier sieht man eine vollständig nackte Frau, aber keine sogenannten Schamteile. Allerdings wirkt diese Haltung nicht als künstliche Pose, um Genitalien zu verdecken. Diese Nacktheit ist in der Tat eine äußerst selbstbewusste. In tiefer Innerlichkeit in sich gekehrt, ignoriert dieser Körper die Mechanismen zwischen Sexualisierung und body shaming. Schämen soll sich höchstens der Betrachter, wenn er hier immer noch Sexfantasien entwickelt.
Während die Frauen auf den gezeigten Covern wenigstens ihre Brüste zeigen, verhüllt die Band FLASH sogar diese Körperzone, schämt sich vor einem Nippelalarm. Diese Coverfrau ist gleichzeitig nackt und nicht nackt. Gestaltet vom legendären Hipgnosis-Team ist die Nacktheit nur eine vorgestellte im Blick des Betrachters. Dieser nackte Körpers zeugt nicht von einer sexuellen Revolution. Im Gegenteil: Das Cover funktioniert nur auf dem Fundament einer stabilen Schamkultur.
Tja, Revolutionen sind auch nicht mehr das, was sie waren. Die Revolutionäre der 70er entledigen sich ihrer Kleidung, um ihrem Kampf gegen eine unnatürliche Scham einen sichtbaren Ausdruck zu geben. Aber wie man an den Plattencovern sehen kann, ist ihnen die letzte Konsequenz ihrer Revolution offenbar peinlich. Sich seines Körpers zu schämen, bleibt ein stabiles Element der Kultur.
Nach über 50 Jahren der angeblichen Schamlosigkeit kann man eine überraschende Entwicklung erkennen: die breite Wiederkehr der Scham in allen möglichen Feldern: Fleischscham, Flugscham, Autoscham, Konsumscham. Immer mehr Menschen schämen sich für Dinge und Handlungen, auf die sie früher stolz gewesen wären, wie Pelzmäntel, Besitz eines Eigenheims oder die alte Ölheizung. Wem das nicht reicht, kann sich sogar sehr erfolgreich fremdschämen.
Der österreichische Philosoph Robert Pfaller zeigt jüngst, dass das eine ziemlich verlogene Scham ist. Diese Form der Scham ist eine Maske, hinter der sich Stolz verbirgt. Man ist stolz auf soviel Sensibilität, Achtsamkeit und Sinn für das Peinliche, darum trägt man seine Scham wie früher eine exklusive Armbanduhr oder teure Handtasche.
Gleichzeitig wird hartnäckig verkündet, dass alle Körper schön seien und sich niemand für seinen Körper zu schämen brauche, body-positivity schlägt body-shaming. Doch wer sich schämt, tut das nicht absichtlich. Wenn man gesagt bekommt, man brauche sich nicht zu schämen, dann schämt man sich vielleicht doppelt, nicht nur für seinen Körper, sondern auch für seine Scham.
Für Pfaller beruht die Scham auf einem sozialen Band. Sie ist weder die intime Empfindung einer einzelnen Person noch der Zwang einer Kultur, die Sexualität diszipliniert. Sie ist vielmehr solidarisch geteilte Verantwortung. Scham ist eine Kulturtechnik sozialer Verbindlichkeit. Ebenso wie Höflichkeit und Takt sorgt die Scham dafür, Fehler zu übersehen, diskret zu ignorieren. Scham quittiert z.B. Übergewicht und unvorteilhafte Körperformen mit Anteilnahme und nicht mit Hate speech, die wiederum ein eskalierendes Bodyshaming hervorruft. Scham hat eine gnädige, solidarische Seite. Man darf dem anderen seinen Makel nicht zum Vorwurf machen, ja nicht einmal zeigen, dass man ihn überhaupt bemerkt hat, sondern muss darüber hinwegsehen.
Vielleicht kann man es ja auch so sehen: Die Cover der gezeigten LPs zeugen nicht etwa von einer halbherzigen Revolution, die vor der eigenen Konsequenz zurückschreckt, sondern sie enthalten das Wissen um die soziale Funktion der Scham als Verantwortung und Fürsorge gegenüber dem Anderen.
Das Cover nimmt sich wörtlich: Es bedeckt, es verhüllt dieses Etwas, das man diskret übersieht. Das Cover kennt noch die soziale Funktion der Scham, im Gegensatz zu den heutigen sozialen Medien.
Natürlich gibt es – wir sind in den frühen 70er-Jahren – auch eine ironische Variante zum Komplex Nacktheit und Scham: Die Schweizer Band BRAINSTORM präsentiert sich auf dem Cover ihrer 72er Platte so ziemlich nackt. Genderfluid verwandeln sich die vier jungen Männer in geschminkte Frauen mit großen Brüsten und stecken ihre Körper in Frauenunterkleidung, in einen Mieder. Ein Mieder formt und stützt den Frauenkörper und soll vorstellungsbildend wirken, eine formschöne Figur versprechen. Doch ein Mieder wirkt ausschließlich als unsichtbare Unterkleidung, ansonsten eher als stoffliches Verhütungsmittel.
Ironisch macht sich die Band über ihren Zeitgeist lustig und nimmt alles auf die Schippe, was die 70er gefeiert haben: das androgyne Spiel mit dem Geschlecht a la Bowie und Bolan, die Posen der Glam-Rocker sowie die Varianten der Nacktheit zwischen Sexualisierung und dem Mythos befreiter Natürlichkeit.
Dieser Appell benötigt ein Update: Smile a While.