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Facing You: Über Nähe und Ferne zum Covergesicht

Hören statt lesen: https://youtu.be/rt_oH1utzVA

Facing you“ heißt das erste Soloalbum von KEITH JARRETT. Der Ausdruck facing you ist mehrdeutig, changiert zwischen Nähe und Distanz, bedeutet auf etwas zeigen, auf etwas Besonderes verweisen, richtet den Blick auf Bestimmtes. Facing you spricht zugleich von Zuwendung und einem Gegenüber.

Die Schallplatte ist das Medium der Musik, für die sich der LP-Käufer interessiert. Ihre Verpackung, das Cover, enthält aber einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert – das ist die These meiner Reihe. Das Cover transportiert den heimlichen Auftrag, das Akustische und das Visuelle in einen direkten oder indirekten, einen metaphorischen oder assoziativen Zusammenhang zu stellen.

JARRETs LP macht das modellhaft vor. Das Cover sendet ein optisches Signal, zeigt auf etwas vor uns Liegendes, verweist auf das Gesicht des Künstlers. Facing you a Face.

Das Gesicht – und nicht etwa die Hände des Pianisten – ist die Schnittstelle zwischen dem Bild des Covers und dem Sound, es steht zwischen der visuellen und akustischen Wahrnehmung. Das Gesicht auf dem Cover ist ein Medium, das zugleich Nähe und Distanz herstellt. Das Cover ist ein Facebook, das Face auf dem Cover ist ein Interface zwischen der Person des Musikers und dem Hörer, der den Blick des Covergesichtes erwidert.

Olivia Newton-John

Wie die Filmtechnik des Close-up bieten zahlreiche Cover des Jahres 1972 die Nahaufnahme eines Gesichts ohne jeglichen Kontext. Sie tilgt Vorder- und Hintergrund, schneidet das Gesicht aus einem dynamischen Zusammenhang. Ein solchen Bild erschafft die Fiktion einer totalen körperlichen Nähe, da es keinen Raum mehr zwischen dem Gesicht und seinem Betrachter gibt.

Das Coverbild stellt eine große Intimität, eine enge Verbindung zwischen Künstler und Fan her, hat aber zugleich eine andere, eine dunkle Seite. Das fixierte Bild eines Gesichts ist eigentlich eine Totenmaske. Roland Barthes nennt das den Thanatus-Effekt. Der Tod schleicht sich in das Bild ein, immer mehr, je älter es wird. Bis auf KEITH JARRETT sind die Menschen, deren Gesichter Sie bisher gesehen haben, alle inzwischen verstorben. Im Foto verdrängen wir die Totenmaske, wir denken an ein lebendiges Gesicht, kennen aber nur ein Bild.

Das Coverbild des Künstlergesichts leidet unter der grundsätzlichen Widersprüchlichkeit aller Bilder. Sie stellen sich zwischen uns und dem, was sie zeigen. Sie zeigen und verbergen gleichzeitig. Wir alle kennen das Phänomen, dass wir uns irgendwann nur noch an das Foto erinnern und nicht mehr an das auf dem Foto festgestellte Ereignis.

Das Coverfoto ist einzureihen in die lange Geschichte der europäischen Porträtmalerei. In der Frühen Neuzeit emanzipierte sich das Porträt vom Christus-Antlitz der Ikone und wird ein Medium, die gesellschaftliche Rolle der Person darzustellen. Sie erhält z.B. in Rechtsgeschäften den Charakter der Anwesenheit eines Abwesenden. Das Porträt verwandelt die offene Form eines lebendigen Gesichts in die geschlossene Form einer Maske. Während die Ikone mit dem Anspruch antritt, ein echtes Bild zu sein, weil die Darstellung Christi dem Abdruck seines Gesichts auf dem Tuch der Veronica folgt, führt der Wandel vom Heiligen zum modernen Subjekt zu einem Rollengesicht mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Repräsentation.

Mit dieser neuen, symbolischen Bedeutung vergrößert sich die Distanz zwischen dem Gesichtsbild und dem Betrachter. Diesen Verlust von Nähe kompensiert das Porträt durch den Blick. Das Gesicht, das uns anblickt, ist ein Kommunikationsangebot. Im Austausch der Blicke verliert das Bild seinen Objektcharakter und wird zum Ausdruck einer Subjektbeziehung. Facing you: Der Blick ist Ihnen zugewandt, er suggeriert eine intime Nähe. Der auf den Betrachter gerichtete Blick ist dialogisch bis zur Aufdringlichkeit.

Die kontextlose Nahaufnahme des Gesichts täuscht eine Face-to-Face-Kommunikation mit der Cover-Person vor, produziert eine scheinbare Nähe zum Abwesenden, der aber doch unerreichbar auf sich selbst bezogen bleibt.

Das Idol, das Vor-Bild, lebt als Totenmaske eines Gesichts von den Projektionen, Wünschen, Imaginationen des Betrachters. Es findet eine klassische Übertragung statt: Wir besetzen ein anderes Gesicht mit unserem Ausdruck. So verwandelt sich das Cover in einen Spiegel, in die allseits bekannte Erfahrung des Blicks in den Spiegel am Morgen: Kenne ich nicht, wasche ich nicht.

Das Cover-Gesicht ist ein Janus-Kopf. In einem unauflöslichen Widerspruch stellt es eine große Nähe zum Betrachter des Covers und Hörer der Schallplatte her, verstellt aber gleichzeitig den Zugang zu der lebendigen Person, da von ihr nur die fixierte Totenmaske übrig bleibt. Ge-sicht bedeutet ursprünglich sehen, anblicken. Der Blick auf das Covergesicht verrät mehr über den Betrachter als über die abgebildete Person.

Die Funktion des Covers, eine enge Verbindung zwischen dem Pop-Star und seinem Fan herzustellen, ist heute verschwunden. Spätestens mit dem Internet ersetzt die permanente Verfügbarkeit von Bildern die Einmaligkeit des Plattencovers. Die digitale Selbstdarstellung der Stars saugt die Follower in eine Privatheit bis zur peinlichen Würdelosigkeit.

Das war 1972 noch anders. Nur sehr zögerlich fand die Rockmusik im Fernsehen eine Repräsentanz. Bilder der Stars gab es nur in Zeitschriften oder eben auf dem Cover ihrer Platten.

Doch nahm das allmähliche Verschwinden des Porträt-Bildes schon in den frühen 70ern ihren Anfang. Das US-Magazin Life, das von Gesichtern lebte, erlag der Medienkonkurrenz des Fernsehens und gab im Dezember 1972 auf.

Vielleicht ist auch im Falle der Gesichter das Jahr 1972 ein Wendejahr, Höhepunkt des Nähe versprechenden Porträts und gleichzeitig sein Niedergang, die Auflösung intimer Nähe in die mediale Bilderflut permanenter Verfügbarkeit.

Ist vielleicht die Trauer über eine verloren gegangene Kultur verfrüht? Besteht die Hoffnung auf ein Wiederkehr? Kommt mit der Renaissance des Vinyl auch das Gesicht zurück auf das Cover? Zwei Platten aus dem Jahr 2022 stimmen zuversichtlich. Woran hältst du dich fest, wenn alles zerbricht? fragt LOTTE und gibt mit der Reminiszenz an die Face-Cover eine Antwort. Die Schweizer Band DIRTY SOUND MAGNET zitiert auf ihrem Cover die Motive der Face-Cover: Die körperliche Nähe zu einem kontextlosen Gesicht, der kommunikative Blick, aber zugleich die Totenmaske. Die Janus-Köpfe des Jahres 1972 sind offenbar wieder da.