battisti

Die Hände zum Himmel

weisen in die Richtung, in die der Geist aus dem Körper heraustritt.

Das Cover der 72er Platte von Lucio Battisti zeigt diese ekstatische Geste des Musikhörens. Der mit nur 55 Jahren 1998 verstorbene Musiker war einer der einflussreichsten italienischen Popstars. Diese Scheibe ist eine seiner erfolgreichsten und verkaufte sich über 450.000mal.

Der Titelsong erklärt, wie der Titel zu verstehen ist. Il mio canto libero bedeutet: Meine Ecke, mein Ort der Freiheit. Battisti träumt von einer grenzenlosen Unendlichkeit, jenseits der Grenzen und der Zwänge dieser Welt. Die Hände suchen diesen Ort der Freiheit oben, im Himmel, ein Ort, der auf dem Cover noch ganz weiß, unbesetzt ist.

In Hazor, einer Stadt aus der Bronzezeit nördlich des Sees Genezareth, hat man eine große Kultstätte aus dem 15. Jahrhundert v. Chr. gefunden. Hier steht das Vorbild für dieses Cover.

Eine Steintafel zeigt das früheste Dokument der Publikumsbegeisterung für ein Rockkonzert, Hände, die sich nach oben recken und die göttlichen Stars auf der Bühne erreichen wollen.

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Hände sind das Medium einer Kommunikation mit den Göttern. Man kann sie zum Gebet falten oder in den Himmel strecken, dorthin, wo die Götter wohnen. Hände überwinden die Distanz zwischen Mensch und Gott, Hände wollen das Göttliche be-greifen.

Das Cover der Scheibe von Battisti ist die säkulare Version dieser religiösen Ekstase.

„Hände“ ist das letzte Wort Jesu, bevor er am Kreuz stirbt. Er gibt seinen Geist in die Hände Gottes, die am Anfang den Menschen aus Erde geformt haben. Die Hand Gottes war nicht nur bei Maradona im Spiel, sondern etwas verklausuliert auch bei Adam Smith, der eine „invisible hand“ als Prinzip einer funktionierenden Ökonomie deklariert.

Die Hand ist der Kanal für magische Energieströme. Durch Handauflegen kann man heilen, durch die Hand Jesu und seiner Jünger strömt die Kraft der Hand Gottes, und mit den Be-handelten wird‘s besser werden, wie das Markus-Evangelium verspricht. In Einzelfällen soll sogar eine Brustvergrößerung durch Handauflegen gelingen: Probieren Sie es aus.

Martin Heidegger bemerkt lakonisch und formelhaft: „Die Hand handelt“. Die Hand kann beten und morden, sie kann grüßen, schwören, winken und segnen, sie schlägt und streichelt, sie kann handwerken oder sich an die Straße kleben.

Die Hand ist das Instrument der Manipulation, wenn man jemanden in der Hand hat, die Hand ist zugleich das Zeichen der Emanzipation, der Befreiung aus der fremdbestimmten Manipulation. Das arbeitende Handwerk ist die emanzipierende Macht gegen die herrschende Gewalt.

Die Hand ist die Schnittstelle zwischen uns und dem Rest der Welt.

Die taktile Wahrnehmung über Millionen Tastsinnrezeptoren ist unsere erste Interaktion mit der Umwelt. Tastende Hände erschließen die Welt, bevor wir sie sehen oder hören. Das Fühlen bewirkt Gefühle, wir sind gerührt durch Berührungen. Der Kopf versteht das Gesicht erst in einer Verschmelzung mit der Hand. Fühlende Hände entdecken Joe Simons Gesicht haptisch.

Das einmalige französische Jazz-Rock-Projekt TROC mit Alex Ligertwood als Sänger, der heute noch mit Brian Auger tourt, zieht aus der umfassenden Relevanz der Hand die Konsequenz und ersetzt den Kopf durch die Hand. Das ist nur folgerichtig, denn wenn wir denken, etwas kognitiv zu verstehen, machen wir nichts anderes als es zu be-greifen, zu er-fassen. So gesehen, ist unser handelnder Weltbezug nur eine Fortsetzung des archaischen Greifreflexes, einer Handlung von Babys als einem übriggebliebenen Rest aus der Zeit, als wir noch auf Bäumen lebten.

Das Begreifen changiert in einer handfesten Alternative. Der jüngst verstorbene Tony Marshall formuliert in seinem großen Hit des Jahres 72 einen taktilen Appell: Komm gib mir deine Hand.

Diese Bedingung zur Feier wird interessanterweise auf der Rückseite der Single durch einen transzendenten Bezug fundiert. Auch Marshall greift noch oben, zum Göttlichen: Ich hol dir vom Himmel die Sterne.

Parallel dazu erinnert die erste LP der SCORPIONS an die Risiken eines begreifenden Weltbezugs. Etwas zu begreifen, kann auch gefährlich sein. Das tierische Gift oder eine Vireninfektion durchs Händeschütteln erfasst uns auch, aber anders, als Tony Marshall es verspricht.

Einige Cover des Jahres verweisen auf ein anderes Handeln. Hände können kooperieren, sie können aber auch kämpfen, wenn man sie zur Faust ballt. Eine der einflussreichsten Kraut-Rock-Bands nennt sich FAUST und spielt mit der Ambivalenz zwischen Hochkultur eines Goethe-Bezugs und dem aggressiven Gestus einer neuen Pop-Musik.

Die gereckte Faust ist natürlich die Geste einer revolutionären Haltung, vor allem prominent geworden als die Black-Power-Faust, zitiert von den STYLISTICS oder der Band TOWER OF POWER, aber auch gerne benutzt im deutschen Kontext von Alexis Korner oder von der sich als Polit-Rocker verstehenden Band FRANZ K., die ebenso wie FAUST nicht nur an die starken Arme der Arbeiter, sondern mit ihrem Namen zugleich an literarische Hochwertkultur, an Kafka, erinnert. Und selbst die öffnende Hand auf der Rückseite hält als Gabe Kriegsspielzeug bereit.

Aber schon das Cover von Alexis Corner deutet eine Verwässerung der kämpfenden Faust an, wenn sie wie Dosenfutter konsumierbar ist, und spätestens mit der Becker-Faust als entpolitisierten Sieger-Geste endet.

Pop-Musik ist Pose, Bild und Musik, wie wir von Diedrich Diederichsen wissen. Warum feiern dann diese Cover das taktile Begreifen und Erfassen der Welt? Warum zeigen sie Hände und nicht etwa Ohren?

Vielleicht ahnen sie, was auf die Musik zukommen wird. Wenn sich Musik in der Cloud der Streaming-Plattform in digitale Daten verwandelt, wird sie um einen zentrales Element ihres Daseins beraubt.

Entmaterialisiert kann niemand mehr den Wert der Pop-Musik begreifen, ihre Kraft der Emanzipation, ihrer zuschlagenden Faust, ihres versöhnenden Handschlags, ihrer transzendierenden Orientierung.

Die Hände auf den Cover zielen auf sich selbst. Sie feiern das haptische Erleben der Pop-Musik. Erst mit dem Cover in der Hand handelt die Musik, ist sie mit Händen zu greifen, man hält es fest wie ein Foto.

Hören, Sehen und Fühlen bilden zusammen die handgreifliche Bedingung für eine intensive synästhetischen Erfahrung. Mit dem Cover in der Hand kann der Pop emanzipatorisch wirken, aber nicht mit gestreamten Daten im Kopfhörer.

Die Ahnung der 72er Cover erhält eine zuversichtlich stimmende Aktualität. Die Wiederkehr des Vinyl zeugt davon, wie wichtig es ist, Musik zu ergreifen. Darum mein Appell: Hören Sie handelnd.