King Alcohol
Der Free Jazz Musiker Rüdiger Carl gibt im Januar 1972 mit zwei Kumpels ein Konzert in der Akademie der Künste in Berlin. Die Aufnahmen erscheinen ein Jahr später und werden in ein äußerst cooles Cover verpackt. Ganz gegen den Zeitgeist-Trend, die Cover bunt und opulent zu gestalten, verschreibt sich dieses Cover einem absoluten Minimalismus und beschränkt sich auf den Titel und eine illustrierende Zeichnung, von Rüdiger Carl höchstselbst gestaltet. Da hat sich die Lehre als Grafiker im Bärenreiter-Verlag in Kassel schon gelohnt, die Rüdiger Carl absolvierte, bevor er Künstler werden wollte. Ein Sektglas, schwach geprägt durch eine Krone, präzisiert die Art des Alkohols.
Wird hier ein Geheimnis ausgeplaudert? Ist etwa der wirre, sperrige, intellektuelle Free Jazz Sound eine Folge von Alkoholkonsum? Wird hier in unverantwortlicher Manier eine Droge gefeiert?
Schauen wir etwas genauer hin. Die Fraktur-Schrift deutet einen historischen Bezug an. Und in der Tat. „King Alcohol“ ist schon seit dem frühen 19. Jahrhundert eine Metapher für den Alkoholismus und Symbolfigur warnender Kampagnen.
So gesehen macht das Cover genau des Gegenteil einer Drogenparty und weist sich aus als neue Version der Anti-Alkoholiker. Da es für den 27-jährigen Rüdiger Carl die erste Platte ist, kann sich der Untertitel New Version nicht auf eine musikalische alte Version beziehen, sondern wohl auf eine neue Version des tyrannischen Alkohol-Königs.
THIN LIZZY haben mit dem irischen Volkslied Whisky in the Jar 1972 ihren größten Erfolg, den der Sänger Phil Lynott so ernst nimmt, dass er 1986 mit 36 Jahren an seiner Alkoholsucht stirbt. Hätte er mal die 1972 in Irland erschienene LP How to stop drinking gehört und befolgt, wäre das nicht passiert.
Ob Rüdiger Carl den King Alcohol entthronen möchte, bleibt offen. Kurze Bemerkungen auf der Rückseite lassen jedoch an dieser guten Absicht zweifeln. Eine kryptische Widmung nennt einerseits tote Musiker, bezeichnet den King Alcohol aber zugleich als Förderer gegen Kälte, Nüchternheit, Hunger, Unruhe sowie einen Special Kind of ghost.
Immerhin berichtet Rüdiger Carl in einem autobiografischen Gesprächsprotokoll, erschienen zu seinem 70. Geburtstag 2014, von durchzechten Nächten und prahlt mehrfach damit, auf allen Vieren die Kneipe verlassen zu haben.
Allerdings zeigt sich auch hier eine Folge des Alkohols, nämlich auf die Rechtschreibung, die dann eher der alkoholisierten Aussprache folgt: King Alohol.
Der freizügige und unbeschwerte Umgang mit Drogen ist 1972 schon Geschichte. Immer deutlicher tritt die dunkle Seite des Drogenkonsums zu Tage. So thematisiert einer der größten deutschen Hits des Jahres, Am Tag als Conny Cramer starb, den Drogentod und stürzt die 16-jährige Juliane Werding in tiefe Trauer, wie sie ihre LP betitelt.
Auch die KINKS warnen in ihrem Song Alcohol eindringlich mit einer Story, wie jemand ein „Slave of Demon Alcohol“ wird.
Dass Drogen künstlerische Kreativität weckt, ist schon 1972 ein Mythos, exemplarisch zu besichtigen mit der LP Seven up. Diese unter Drogenkonsum eingespielte Session ist einfach nur schlecht und peinlich, obwohl die deutsche Band ASH RA TEMPEL so stolz war, den LSD-Papst Timothey Leary ins Studio gelockt zu haben, der dann zugedröhnt ins Mikro dröhnt, nachdem er an der mit LSD versetzten Limonade Seven up genippt hat.
So widmen sich überraschend wenig Cover dem Alkohol. Im Gegenteil, fröhliche Bandgelage gruppieren sich um Kaffee und Kuchen, wie bei GOLDEN EARRING,
oder die englische Gruppe Fair Weather genießt die Zigarette danach, nach vermutliche einem schottischen Single-Malt, der sich stilgerecht zuvor im Flacon entfalten konnte.
Auch ROD STEWART ist ein bekennender Trinker. Sein Antlitz verschmilzt mit einem Whisky-Glas. Doch das Sakrileg, Whisky mit Eis zu trinken, entlarvt Stewart nicht gerade als Experten des schottischen Nationalgetränks.
Der King Alkohol, der sich bei Rüdiger Carl als Sekt ausgibt, wird in ein paar wenigen anderen Covern des Jahres in Sorten differenziert.
Der Drinking Man’s Friend ERIC QUINCY TATE favorisiert Bier aus Dosen, obwohl Songs der Scheibe auch den Whiskey thematisieren und von Fähigkeiten träumen, die wir nur von Jesus kannten: Die Verwandlung von Water to Wine.
Bier ist wohl ein Nationalstereotyp Bayerns. Die Olympiade in München kommt ohne die Disziplin des Bierkrugreißens nicht aus. Diesem Dirndl gönnen wir doch die Goldmedaille.
SPENCER DAVIS zeigt sich äußerst vergnügt mit seiner klassischen Kombination von Schweizer Käse und Rotwein.
BOBBY GOLDSBORO macht seinen Lieblingswein aus Kalifornien zum Titel seiner 72er-LP, ja identifiziert sich sogar mit dem Alkohol, wenn er sein Gesicht auf das Label der Flasche platziert.
Die Ambivalenz des Alkohols, in der das Cover der LP von Rüdiger Carl so wunderbar subtil und unentschieden changiert, bringt ein Sampler des Labels Warner Brothers ziemlich deutlich zu Tage. Die zwei Seiten eines Covers werden zur Metapher für die zwei Seiten des Alkoholkosums, sowohl Medium der fröhlichen Geselligkeit zu sein, als auch in Abgründe des Rausches zu stürzen.
Wir sehen eine mit wenigen Strichen gezeichnete intime Szene in Schwarz-Weiß. Nur der Wein glänzt lila. Mit einer rituellen Geste, die Weingläser anzustoßen, bekräftigt das Paar seine Gemeinschaft, vielleicht eine tiefe Liebe. Die Leibesfülle der beiden Weintrinker umringt einen Plattenspieler, der sie zugleich verbindet und trennt. Die Szene illustriert das kleine Wortspiel der Platte, The Days of Wine and Vinyl. Es gibt allerdings auch eine Rückseite dieser idyllischen Zweisamkeit. Das Arrangement zerbricht brutal. Die Dame kippt gefährlich nach hinten, der Wein rinnt aus dem gefallenen Glas. Der Mann versucht noch im Fallen, das Getränk zu retten, aber auch ihm steht unmittelbar das Schicksal seiner Frau bevor. Die Schallplatte, die zuvor noch das Rendezvous durch Schmusesongs aufheizte, fliegt jetzt wie ein UFO durch die Luft. Die Einheit von Wein und Vinyl ist aufgelöst, ist schlagartig explodiert.
Das Jahr 1972 hat im Januskopf sein Symbol gefunden. Immer wieder zeigt es seine beiden antagonistischen Seiten. Ein popkultureller Höhepunkt ist zugleich ein Wendepunkt zum Verfall. Die offene oder subtile Ambivalenz des King Alcohols ist ein weiteres Beispiel für eine spannende und spannungsreiche Zeit: Cheers.