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Mama! oder Das Scheitern der ödipalen Revolte

(auch auf meinem Youtube-Kanal: https://youtu.be/Ru9_Szb7q2M)

BANG ist eine Hardrock-Band aus Philadelphia, die sich selbst als amerikanische Antwort auf BLACK SABBATH versteht. Ihre zweite LP trägt den Doppeltitel Mother/Bow to the King.

Das Cover zeigt eine alltägliche Familienszene in einer mittelalterlich anmutenden Küche. Die Mutter versorgt ihre drei Söhne mit einer Tarte, wie das halt Mütter so machen. Doch hier stimmt was nicht. Die drei Jungs schenken Mutti und ihrer Kochkunst keinerlei Aufmerksamkeit. Sehr ernst blicken sie in unsere Richtung. Nahezu flehentlich richten sie eine stumme Botschaft an den außenstehenden Beobachter. Ist die Küche etwa ein Gefängnis, aus dem sie befreit werden wollen. Leiden sie unter der strengen Herrschaft der übermächtigen Mutter?

Der Text des Titelsongs bestätigt diesen Verdacht. Er erzählt von der schmerzhaften, pubertären Erkenntnis, dass Muttis liebevolle Fürsorge, ihre idyllische Welt eines harmonischen Miteinanders nicht der Realität entsprechen. Mama hat uns angelogen.

Mother you‘ve been good to me Mother,
kept me from what I shouldn‘t see
Taught me life was sweet and grand
told me goodness came from man Mother
you lied to me Mother, you lied to me
.

Das Cover erzählt die Story einer ambivalenten Mutter-Sohn-Beziehung. Der Blick der Söhne ist ein Akt der Befreiung von Mutters Schürze, denn erst dahinter öffnet sich ein freies und glückliches Leben.

1972 ist ein Jahr der Befreiung, auch aus der mütterlichen Fremdherrschaft, ein Versuch, sich den ödipalen Verstrickungen zu entziehen. Junge Männer stecken in einer ambivalenten Gefühlsverwirrung. Sohnemann träumt von einer freien Welt, nuckelt aber immer noch an Muttis Versorgungsbrust.

Zwei andere Ereignisse des Jahres testen den Akt der Befreiung von der Mutter radikaler.

1972 erscheint ein bahnbrechendes Werk der Philosophie, der Anti-Ödipus. Der Philosoph Gilles Deleuze und der Psychoanalytiker Felix Guattarri versuchen mit einem alten Mythos aufzuräumen, den Sigmund Freud mit dem Begriff Ödipus-Komplex belegt hat: die unhintergehbare, nahezu erotische Bindung von Sohn und Mutter. Alles Quatsch, sagen Deleuze und Guattari, und reine Reproduktion kapitalistisch strukturierter Machtverhältnisse. Soweit die Theorie. Es gab aber auch eine ganz praktische Befreiungstat von Muttis Macht.

Am 21. Mai, dem Pfingstsonntag, ist das Pontifikalamt mit Papst Paul VI. Im Petersdom gerade beendet, als ein bärtiger Mann über die Absperrung zu Michelangelos Pieta in der ersten Seitenkapelle klettert. Aus seinem Regenmantel zieht er einen Hammer und schlägt auf die ungeschützte Statue ein.

Mit dem Ruf „Jesus ist auferstanden. Ich bin Jesus!“ beschädigt er die Marienfigur mit sieben kräftigen Hieben. Dabei brach Marias linker Unterarm ab, landete auf dem Boden und zerbrach. Unter lautem Geschrei beschädigte er die Figur im Gesicht, im Bereich des Nackens und ihres Schleiers. Erst danach kann ein Feuerwehrmann den Kunstzerstörer überwältigen.

Der Attentäter wollte der Mutter Gottes das Haupt abschlagen und mit diesem zerstörerischen Akt die Auferstehung des göttlichen Heilands feiern.

Laszlo Toth, ein Australier ungarischer Abstammung, hat den Zeitpunkt seiner Tat genau geplant. „Heute bin ich 33 Jahre alt, das Alter, in dem Christus am Kreuze starb. Wenn ihr mich jetzt tötet, um so besser! Dann komme ich auf direktem Weg in den Himmel.“

Toth wird in die Psychiatrie eingewiesen und als paranoid-schizophren diagnostiziert. Psychologen erklären das Attentat als Reaktion des Sohnes auf die Mutter, die als Personifikation eines das Leben verneinenden Glaubens gesehen wird. Der Angriff des Täters auf die Pieta wird als Attentat auf die eigene Mutter gewertet. Die Marienfigur sei das vollkommene Substitut der Mutter. Laszlo Ödipus aka Christus tötet seine übermächtige Mutter. Er ist in der Tat einer der Motherfuckers, wie die deutsche Band XHOL ihre 72er LP betitelt.

Die Popmusik des Jahres 1972 ist gesättigt von Müttern und ödipalen Söhnen, einige Songtitel laufen gerade durchs Bild.

Eine Befreiung aus Muttis Herrschaft ist jedoch die absolute Ausnahme. RICK NELSON versucht seine Mutter rauszuschmeißen. Allerdings ist er schon 32 Jahre alt.

Walk yourself right out at that door mama, I don‘t want you anymore.

Man kann höchstens, wie die TEMPTATIONS, ankündigen, sich von den Ketten der Mutter Natur zu befreien: Mother Nature take the chains off me, I Wanne be free.

Ansonsten gilt: Alles Schlampen, außer Mutti. Mama ist die größte, selbst ein verlorener Sohn jammert ihrer Liebe hinterher:

I love her more and more, to her I‘m still her boy. Man muss befürchten, dass EARTH, WIND & FIRE dieses Mama-Kitsch tatsächlich ernst meinen.

Der kleine Ödipus hat gegen die übermächtige Mutter keine Chance.

I‘ve got a big fat mama and there‘s no one else around, konstatieren STATUS QUO bitter.

In vielem ist das Jahr 1972 ein besonderes, ein Jahr der Wende und der Umbrüche. Aber der Aufstand gegen die Mutter gelingt nicht, der Ausbruch des verlorenen Sohns endet immer wieder in der Regression.

Paul Simon speist in einem New Yorker China-Restaurant. Ein Gericht mit Huhn und Ei trägt den Namen Mother and Child Reunion – so die Story zu seinem Song. Paul Simon ist der Anti-Laszlo-Christ. Schöner als Mutti zu töten ist die Rückkehr in die Fruchtblase. Muttis Liebling muss sich nur etwas schüchtern unter seiner Kapuze verstecken.

Michelangelos Pieta wurde schnell wieder zusammengeflickt. Ein Glaskäfig schützt seitdem die Mutter Gottes vor dem ödipalen Hammer. Laszlos Tat gegen die Mutter ist schnell vergessen.

Gilles Deleuze zieht 15 Jahre nach dem Anti-Ödipus ein bitteres Fazit: Wir haben davon geträumt, Ödipus den Garaus zu machen. Aber diese Aufgabe war zu groß für uns.

BANG lösen sich ein Jahr später auf und kehren vermutlich zurück in Muttis Küche.

Die Rebellion des kleinen Sohnemanns gegen Mama muss scheitern, immerhin ist die Mutter das große Ganze, das Universum, auch wenn Mother Universe auf dem Cover von WALLENSTEIN nur die Großmutter des Keyboaders und späteren Gastronomie-Kritikers Jürgen Dollase ist.

Der popkulturellen Ur-Knall, der BANG, wie sich die drei Söhne selbst bezeichnen, ist ausgeblieben, Mama bleibt, wie WILD TURKEY konstatieren, eine Eternal Mother.

72er Mama-Titel unter: Listen